Phnom Penh entwickelt sich rasant. Überall an den Rändern der Stadt sind Neubaugebiete ausgewiesen, und die besten Grundstücke im Zentrum verkauft die Stadtverwaltung an Privatinvestoren. Um das Land dazu freizubekommen, werden die Bewohner skrupellos vertrieben.
Ein Mann in Gummisandalen und zerschlissenen Shorts bohrt auf einem Feld, rund zwanzig Kilometer nordwestlich des Stadtzentrums von Phnom Penh, mit einem krummen schmalen Spaten Löcher in den Sandboden. Er hat gerade ein Stück Land in der Nähe des Dorfes Trapeang Andong zugewiesen bekommen: Plot Nummer 62. Das Grundstück ist vier mal sechs Meter gross. Jetzt, am Vormittag, brennt die Sonne, und Schweiss rinnt über den sehnigen Oberkörper des Mannes. Am Nachmittag wird das Wasser mit tropischer Wucht vom Himmel niederprasseln, denn in Kambodscha hat die Regenzeit begonnen. Bis dann will der Mann für seine sechsköpfige Familie ein Dach über dem Kopf errichtet haben. Das Zuhause wird etwa so gross sein wie eine europäische Doppelgarage. Aber nicht so stabil, und auch nicht so trocken. Es wird aus Bambusstangen und Plastic bestehen, und wenn der Mann Glück hat, kann er es vielleicht mit Holzbrettern und Blechteilen verstärken.
Fehlende Infrastruktur
Auf dem Feld, auf dem noch vor kurzem Reis angebaut wurde, gibt es weder Wasser noch Strom. Mindestens 1200 Familien leben hier in provisorisch zusammengezimmerten Verschlägen. Manche Beobachter sprechen von über 1500 Familien, genau weiss es niemand. Das drei Hektaren grosse Gelände, das offiziell noch zu Phnom Penh gehört, sich faktisch aber mitten auf dem Land befindet, sieht aus wie ein Flüchtlingslager. Man watet durch Schlamm und Müll - die 20 Latrinen sind längst voll. Das Wasser aus den Tümpeln, in denen nackte Kinder herumtoben, dient zum Waschen und Kochen, manche trinken es auch. In Trapeang Andong droht die Ausbreitung von Typhus und Ruhr. Viele, vor allem Kinder, haben laut Ärzten der lokalen Organisation Licadho, die sich um eine medizinische Basisversorgung bemüht, bereits Durchfall.
Die Menschen hier sind Vertriebene. Sie wohnten bis vor kurzem auf Land, das ihnen nicht gehörte. Ihr Dorf, eine informelle Siedlung im Stadtviertel Bassac im Zentrum Phnom Penhs, hiess Sambok Chab (Vogelnest). Offiziell war es als «Dorf 14» registriert. Rund 1200 Familien lebten dort, manche schon seit Anfang der neunziger Jahre. Es gab Strom, und die besseren Häuser hatten fliessendes Wasser und Toiletten. In Sambok Chab konnte man einem Bettler ebenso begegnen wie einem Künstler oder einem Angestellten des Aussenministeriums, der sich mit 25 Dollar Monatslohn kein besseres Zuhause leisten konnte. Die Vertriebenen, die sich jetzt auf dem Feld in Trapeang Andong an ihre wenigen Habseligkeiten klammern, waren Mieter. Andere, die in eigenen Hütten wohnten, haben ganz in der Nähe grössere Landstücke von fünf mal zwölf Meter bekommen - ebenfalls ohne jede Infrastruktur.
Die Stadt hat Sambok Chab verkauft, laut Schätzungen für mehrere hundert Dollar pro Quadratmeter. Die Lage ist top: im Herzen Phnom Penhs, direkt am Fluss Tonle Bassac, der dem Gebiet den Namen gibt. Die Nationalversammlung bekommt in nächster Nachbarschaft einen riesigen neuen Palast, gegenüber befindet sich die russische Botschaft, die australische zieht in Kürze hierher, und auch für mehrere Ministerien wird neu gebaut. Auf dem ehemaligen Gebiet von Sambok Chab will ein Investor ein Handelszentrum bauen.
Weit unter dem Marktwert «entschädigt»
Die Hauptstadt des kleinen südostasiatischen Landes wächst, und sie entwickelt sich. Überall an den Rändern sind Neubaugebiete entstanden oder ausgewiesen, und die besten Gebiete im Zentrum verkauft die Stadtverwaltung an Privatinvestoren. Prominentes Beispiel ist die Insel Koh Pich im Tonle Bassac, nicht weit vom ehemaligen Sambok Chab entfernt. Sie soll zu einer Satellitenstadt werden. Die 300 Familien, die dort zumeist von der Landwirtschaft gelebt hatten, wurden weit unter dem Marktpreis «entschädigt». Wer nicht weichen wollte, wurde im vergangenen Jahr gewaltsam evakuiert.
Landkonflikte gehören zu den grössten Problemen in Kambodscha, und davon ist keineswegs nur Phnom Penh betroffen. Letztes Jahr gab es fünf Tote bei der gewaltsamen Räumung eines Geländes an der thailändischen Grenze, das an ein Spielkasino verkauft worden war. In den nordöstlichen Dschungel-Provinzen Ratanakiri und Mondulkiri müssen ethnische Minderheiten regelmässig Platz für Plantagen machen. Und erst kürzlich zerstörten Polizei und Militär 71 Holzhäuser sowie 40 Verkaufsstände am Strand von Sihanoukville. Wo bisher Fischer mit ihren Familien lebten, will ein Unternehmen jetzt ein Touristen-Resort bauen. Laut einem Bericht der Zeitung «Cambodia Daily» hat der Gouverneur der Küstenstadt das Vorgehen mit den Worten verteidigt: «Was wir tun, dient der Entwicklung und der Armutsbekämpfung.»
Doch die Armen müssen für die Entwicklung erst einmal weichen. Die 26-jährige Sreyng Chang Doeung ist eine von ihnen. Sie hat Sihanoukville vor vier Jahren verlassen, weil sie obdachlos geworden war. In der Hauptstadt fand sie einen Mann, und gemeinsam mieteten sie eine Hütte in Sambok Chab. Er fuhr Motorradtaxi, sie verkaufte auf dem Markt ein Gemüse mit dem
schönen Namen «Morning Glory». Damit kamen sie durch. An guten Tagen konnte das Paar zusammen 10 000 Riel verdienen, umgerechnet etwa 2,5 Dollar. Für die Miete bezahlten sie 30 000 Riel im Monat.
Kampf ums nackte Überleben
Vor einem halben Jahr hatte Sreyng Chang Doeungs Mann einen Unfall und brach sich ein Bein. Sie mussten das Motorrad verkaufen, um den traditionellen Heiler zu bezahlen, bei dem der Mann seitdem in Pflege ist. Doch das Bein will einfach nicht heilen. Seit zwei Monaten hat Sreyng Chang Doeung ihren Mann nicht mehr gesehen. «Morning Glory» kann sie auch nicht mehr verkaufen. Die Fahrt in die Stadt - Hin- und Rückfahrt kosten insgesamt 5000 Riel - würde ihren bescheidenen Verdienst aufzehren.
So sitzt sie also auf vier Quadratmetern Holz unter einem grün-roten Plasticdach und lächelt. Sie ist niemandem böse. Dass sie arm ist, nimmt sie als Schicksal an - dass sie vertrieben wurde auch. Sie teilt die Hütte mit zwei Paaren, von denen sie durchgefüttert wird. Doch auch diese wurden ihres Verdienstes beraubt, und Sreyng Chang Doeung schätzt, dass sie höchstens noch einen Monat über die Runden kommen werden. Fast allen Familien hier geht es ähnlich. In Trapeang Andong droht eine Hungersnot. Laut Nichtregierungsorganisationen gab es bereits einen ersten Hungertoten. Lokale Organisationen planen, Reis zu verteilen. Aber wie? Sie haben keine Erfahrung in Nothilfe. Sie würden Hilfe aus dem Ausland vorziehen, doch die ist kaum zu erwarten. Die Welt ist voll von Vertriebenen. Ein paar tausend Kambodschaner, die weder Opfer eines blutigen Bürgerkriegs noch einer medienwirksamen Naturkatastrophe sind, werden wenig Beachtung finden.
Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zum Recht auf angemessenes Wohnen, Miloon Kothari, der Kambodscha im August und September 2005 zuletzt besuchte, prangerte schon damals Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landvergabe und Vertreibungen an. In einer Erklärung vom 30. Mai, eine Woche vor der endgültigen Evakuierung der letzten Bewohner Sambok Chabs unter massivem Polizeieinsatz, drückte er höchste Besorgnis aus, wies auf Gefahren und Missstände hin und rief die kambodschanische Regierung und die Stadt Phnom Penh unter anderem dazu auf, Zwangsräumungen im Bassac-Gebiet zu stoppen.
Doch die Empfehlungen von Sonderberichterstattern der Vereinten Nationen rufen bei den Regierenden höchstens Empörung über die Einmischung in innere Angelegenheiten hervor. Yash Gai, der Uno-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Kambodscha, musste sich im vergangenen Jahr nach kritischen Äusserungen als «Dauer-Tourist» beschimpfen lassen, und das Recht auf angemessenes Wohnen ist bei weitem nicht das einzige Menschenrecht, das im Königreich der Khmer nicht so ernst genommen wird.
Sem Sokhen sorgt sich zurzeit weniger um ihre Rechte als um das nackte Überleben. Sie muss drei Kinder und einen tuberkulosekranken Mann über die Runden bringen. In Phnom Penh hat sie die Familie durch den Verkauf von Lotuskernen und Erdnüssen an der Strasse über Wasser gehalten. «Es reichte nicht immer zum Sattwerden», sagt sie. Doch jetzt hat sie Angst, bald gar nicht mehr klarzukommen. Seit der Deportation ist sie ohne Einkommen, und der Reissack wird immer schlaffer.
«Wir hatten nur eine Stunde zum Abbauen und Packen», erzählt Sem Sokhen, die sechs Jahre in Sambok Chab gelebt hatte. Die evakuierten Familien wurden mitsamt den Einzelteilen ihrer Unterkünfte - Baumaterial, das sie nun wiederverwenden - auf Lastwagen geladen und nach Trapeang Andong gebracht. Sem Sokhen, ihr Mann und ihre Kinder mussten ihr Bett zurücklassen. Sie schlafen jetzt auf ein paar krummen Holzplanken. Die 42-Jährige will bald wieder in Phnom Penh arbeiten. «Ich muss dann irgendwo in der Stadt übernachten wegen der Fahrtkosten», sagt sie. Doch im Moment bewegt sie sich nicht vom Fleck. Sie wartet auf Landzuweisung, und ihre grösste Sorge ist es, leer auszugehen. Ihr Mann, Oung Somaly, sitzt zusammengesunken hinter ihr und nickt besorgt, während er Tabak in ein Stück Papier aus einem Notizblock dreht. Auf der nackten Brust des 50-Jährigen zeichnen sich alle Rippen ab.
Zu wenig neues Land
Es gibt 777 Plots auf dem ehemaligen Reisfeld, also weitaus weniger als Familien. Das Gerücht geht um, dass die Vergabe über Schmiergelder läuft. Ursprünglich war das Gebiet ausschliesslich für Mieter aus Sambok Chab gedacht, doch finden sich nun immer mehr Menschen aus anderen Gebieten ein. Angeblich sind über 1000 Familien hier, die nicht für die Landvergabe registriert sind. Eine jüngst eingetroffene Gruppe von 103 Familien wurde von einem Grundstück in Phnom Penh Thmey vertrieben, einem Gebiet am Stadtrand, das zurzeit entwickelt wird. Die Firma, die das Land gekauft habe, habe sie hierher geschickt, erzählt eine Frau. Sie habe gehört, dass ganz in der Nähe ein weiteres Gebiet bereitgestellt werden solle. Die Squatter-Siedlung an einer Pagode im Zentrum werde geräumt.
Doch zuvor war das Gelände neben dem Monivong-Krankenhaus dran, auf dem ein Einkaufszentrum entstehen soll. Die Vertreibung der Familien, die auf dem Grundstück gelebt hatten, ist bereits abgeschlossen. Sie sollten auf ein Gelände 30 Kilometer ausserhalb Phnom Penhs gebracht werden. Doch laut Zeitungsberichten hat die Mehrheit der rund 170 Familien sich entschieden, in der Stadt zu bleiben. Viele der Vertriebenen sind Spitalangestellte oder Polizisten. Wenn sie Phnom Penh verlassen, verlieren sie ihre Arbeit und damit auch ihren Lebensunterhalt.
Auch am Tonle Bassac geht es weiter. Bis zu 150 Familien, die in «Dorf 78» unmittelbar an der Grenze zum ehemaligen «Vogelnest» wohnen, steht wohl in Kürze die Umsiedlung auf ein Gebiet in der Nähe ihrer ehemaligen Nachbarn bevor. Einen Räumungsbefehl haben sie bereits erhalten. Die Stadtverwaltung hat das Land, auf dem sie leben, zu öffentlichem Eigentum erklärt.
Die Bewohner fühlen sich betrogen. Einige geben an, gültige Landtitel zu besitzen, andere beklagen, solche würden ihnen unrechtmässig verweigert. Nachdem unter der Herrschaft der Roten Khmer von 1975 bis 1979 fast alle Dokumente, die Landeigentum regelten, vernichtet worden sind, hat nach einem neuen Gesetz von 2001 jeder nach fünf Jahren das Recht, das Land zu besitzen, auf dem er wohnt. Wenn er dies nachweisen kann. Und wenn die Verantwortlichen mitspielen und die Gerichte unabhängig entscheiden. Und wenn das Land nicht von Stärkeren begehrt wird. Zu viele «Wenns» wohl für «Dorf 78».