Nora Sausmikat, China-Expertin der Umweltorganisation Urgewald, erklärt im Interview, welche Ziele das Land mit seiner „Neuen Seidenstraße“ verfolgt und warum der Trend in Asien raus aus der Kohle und rein ins Gas geht.
neue energie: Chinas Belt and Road Initiative (BRI), auch als „Neue Seidenstraße“ bekannt, gilt als größtes Infrastrukturprojekt der Welt. In seiner Gesamtheit ist die weltumspannende Initiative schwer greifbar. Wie würden Sie sie beschreiben?
Nora Sausmikat: Die BRI ist, wie der Name schon sagt, eine Initiative. Sie ist kein Programm, kein Projekt, es gibt keine Vorhabenliste. Es handelt sich erst einmal nur um eine Idee – man könnte auch sagen Propaganda. Von 2013 bis 2015 rätselten selbst Parteigenossen, was genau damit gemeint sein könnte. Auch im White Paper zur BRI 2015 werden die später propagierten fünf Prinzipien der Kooperation und Konnektivität nur skizzenhaft umrissen. Dabei fügt sich die BRI in die neue Gesamtausrichtung Chinas, die 2013 mit dem Amtsantritt Xi Jinpings begann. Sein Anliegen ist es, globale Spielregeln und Standards maßgeblich mitzubestimmen, sodass sie auf die Bedürfnisse Chinas besser passen. Die BRI ist eins der Mittel dafür. Schwer greifbar ist sie in der Tat, weil sie riesige Regionen auf der ganzen Welt umfasst und sich jedes halbe Jahr ändert. Inzwischen gibt es eine digitale BRI und sogar eine Solar-Weltraum-BRI.
ne: Welche Rolle spielt der Energiesektor in der BRI?
Sausmikat: Die BRI umfasst wie gesagt fünf große Bereiche, Energie- und Verkehrsinfrastruktur ist einer davon. Die Bereiche greifen natürlich ineinander: Um Energieprojekte in anderen Ländern umzusetzen, braucht China freie Handelswege, politisch flankierende Koordination besonders für Mega-Infrastrukturprojekte sowie finanzielle Integration. Dafür hat China unter anderem 2015 die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank AIIB gegründet, eine multinationale Bank, in der auch europäische Staaten Mitglieder sind, darunter Deutschland als größter nicht-regionaler Anteilseigner. Das war ein Riesenschritt für China. Die AIIB ist dezidiert für die BRI geschaffen worden, auch wenn das anfangs bestritten wurde.
ne: Welche Hauptziele verfolgt China denn mit der BRI?
Sausmikat: Vor allem die eigene Versorgung mit Energie und Rohstoffen. Aber es geht auch darum, Überkapazitäten loszuwerden. Das Ganze ist ein bisschen widersprüchlich. Innerhalb Chinas gibt es viele grüne industriepolitische Initiativen und riesige Investitionen in erneuerbare Energien. Von 2012 bis 2019 fiel der Anteil der Kohle im Energiemix von 68 auf 59 Prozent. In der Fossilwirtschaft sind dadurch natürlich Überkapazitäten entstanden. Schon mit Beginn der „Going out“-Strategie nach 2000 wurden massive Auslandsinvestitionen staatlich gefördert und der Weg bereitet vor allem für große Staatsunternehmen. Mit der BRI gab es einen erneuten Schwung von Auslandsinvestitionen, vor allem im fossilen Bereich. China betreibt heute etwa die Hälfte aller Kohlekraftwerke weltweit. Während innerhalb Chinas mittlerweile harte Strafen durchgesetzt werden sollen für Kohleverbrauch zum Heizen oder Kochen, gelten außerhalb Chinas andere Regeln. Dies soll sich nun laut Xis Ankündigung auf der UN-Generalversammlung am 22. September ändern. China wird demnach keine neuen Kohlekraftwerke mehr im Ausland bauen. Wir fordern gemeinsam mit unseren Partnern in den Empfängerländern der chinesischen Kohleinvestitionen, dass dies auch die Beendigung jeglicher Unterstützung für neue Kohleprojekte im Ausland umfassen muss, sei es in Form von Eigentum, Ingenieurverträgen, Versicherungen und/oder öffentlicher oder privater finanzieller Unterstützung.
ne: Die BRI gibt es seit 2013 und Sie sagten eingangs, sie ändere sich ständig. Sind das nur kleine Korrekturen, oder fand in den acht Jahren eine bedeutende Neuausrichtung statt?
Sausmikat: Die erste Idee wurde 2013 noch unter dem Namen One-Belt-One-Road in Kasachstan verkündet. Später änderte sich der Name in Belt and Road Initiative, er beschreibt den Ausbau von Handelswegen über Land und über Wasser. Es gab zwei Phasen. In der ersten Phase von 2013 bis 2017/18 hat man viel herumprobiert und Erfahrungen gesammelt. China hat zunächst bilaterale Abkommen mit rund zwei Dutzend Ländern geschlossen und dort Projekte angeschoben. Und es hat zahlreiche Finanzinstitute zur Unterstützung der Investitionen gegründet, darunter auch die multilaterale AIIB. In dieser Phase wurden laut Untersuchungen der Boston University zirka 91 Prozent der Kredite im Energiesektor von sechs chinesischen Großbanken für fossile Brennstoffe bereitgestellt. 2015 bis 2017 flossen 93 Prozent der Investitionen des staatlichen Silk Road Funds im Energiesektor in fossile Brennstoffe. Darüber hinaus muss man bedenken, dass solche Kraftwerke in der Regel zehn Jahre von der ersten Ankündigung bis zur Inbetriebnahme benötigen und 40 bis 50 Jahre Laufzeit haben. Das ist wichtig, um Emissionsminderungsziele in diesen Ländern einordnen zu können. Die erste Phase endete mit viel internationaler Kritik, vor allem wegen des starken Kohle-Fokus‘ und der Schuldenspirale, in die manche Länder getrieben wurden. Viele der beschlossenen Projekte werden mittlerweile wieder gecancelt.
ne: Was änderte sich danach?
Sausmikat: China reagierte zu großen Teilen auf die Kritik und richtete die BRI neu aus. Seit 2019 läuft die zweite Phase. Peking hat sich jetzt beispielsweise bereit erklärt, bei Ausschreibungen internationale Standards zu befolgen. Angeblich fließt nur noch ein Drittel der Investitionen in fossile Energien, ein Drittel in Wasserkraft und das letzte Drittel in alternative Energien. Die Frage ist allerdings, was darunter verstanden wird. Nach chinesischer Definition gehört auch Atomkraft dazu. Und Megastaudämme sind nach unserem Verständnis keine nachhaltige Alternative. Aber China ist eben auch weltweit größter Investor in Erneuerbare. China lässt seine festen, subventionierten Einspeisetarife für Onshore-Projekte bis Ende 2020 und für Offshore-Vorhaben bis Ende 2021 auslaufen. Dies hatte einen Boom zur Folge, denn wer noch von den höheren Tarifen profitieren wollte, musste die Projekte unbedingt bis zum Auslaufen produktionsbereit haben. In Xinjiang und in der Mongolei wurden 2020 die beiden größten Vertragsvorhaben unterzeichnet, gigantische Windparks sollen entstehen. Xinjiang ist quasi der innerchinesische Teil der BRI: Über die Provinz läuft die Anbindung nach Mittel- und Westeuropa. Eine Abkehr von den fossilen Energien kann man aber noch nicht wirklich sehen. Innerhalb Chinas sind 2020 auch 38,4 Gigawatt an Kohlekraft ans Netz gegangen, dreimal so viel wie im Rest der Welt zusammen. Insgesamt sind innerhalb Chinas 238 Kohlekraftwerke im Bau oder in der Entwicklung. Chinas jährlicher Ausstoß von Treibhausgasen übersteigt mittlerweile die Emissionen aller Industrieländer zusammen. Um das Ziel von Netto-Null im Jahr 2060 zu erreichen, müsste China in den nächsten zehn Jahren 600 seiner Kohlekraftwerke schließen statt neue zu bauen.
ne: Und wie sieht es im Ausland aus? Baut oder finanziert China dort weiterhin vor allem fossile Energieinfrastruktur?
Sausmikat: Überwiegend ja, China ist verantwortlich für rund die Hälfte der weltweiten Kohleentwicklung. Das hängt auch mit der Nachfrage zusammen. Viele Länder wollen Kohle nutzen, weil sie denken, dass damit Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Argument der billigen Kohle zieht hingegen nicht mehr – denn das ist sie ja nicht mehr. Und wir konnten in bedeutenden BRI-Ländern auch schon eine starke Gegenbewegung feststellen. Pakistan hat im Dezember einen Stopp für alle chinesischen Kohleprojekte verkündet, da waren 38 Gigawatt geplant. Nur noch die bereits im Bau befindlichen Projekte sollen zu Ende gebracht werden. Ich denke allerdings, dass Pakistan schwer aus den Verträgen rauskommen wird. Bangladesch hat zehn von 18 geplanten chinesisch finanzierten Kohlekraftwerken gecancelt. Dort hat sich die Regierung mit China darauf geeinigt, dass die Darlehen umgewidmet werden. Ich vermute, dass es nun in Richtung LNG, also Flüssigerdgas geht. Die Ankündigung Xis, aus dem Bau von Kohlekraftwerken auszusteigen und gleichzeitig die Unterstützung erneuerbarer Energien auszuweiten, kann auch als Aufforderung an die BRI-Länder verstanden werden, ihre grünen Wunschlisten zu verfassen.
ne: Wird Gas in Asien künftig die Rolle von Kohle einnehmen?
Sausmikat: Ja, es gibt eine eindeutige Bewegung hin zur Nutzung von Erdgas und Flüssigerdgas. Wir werden in Zukunft massiv sehen, dass LNG-Terminals statt Kohlekraftwerke gebaut werden, alle wollen dann raus aus der Kohle und rein ins Gas. Erdgas wird dabei als Übergangstechnologie verkauft, mit dem Argument, dass man nicht sofort auf erneuerbare Energien umstellen könne, wegen der Stromnetze. Das sehe ich aber als Vorwand, um weiter Geschäfte im fossilen Bereich zu machen. Die Länder arbeiten seit Langem am Netzausbau, die wissen ja nicht erst seit gestern, dass die Erneuerbaren kommen. China will einfach noch Aufschub haben. Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass die westlichen Länder mit den fossilen Energien in Asien ebenfalls Geld machen.
ne: Die Asian Development Bank (ADB), das asiatische Pendant der Europäischen Investitionsbank, hat kürzlich beschlossen, die Finanzierung fossiler Energien weitgehend zu beenden. Wie wird sich das auf die BRI auswirken?
Sausmikat: Die ADB steigt nicht komplett aus, es gibt da sehr viele Schlupflöcher. Gas wird unter bestimmten Bedingungen weiter finanziert, mit dem üblichen Übergangsargument, und es gibt keine Roadmap, keinen Zeitplan, um aus Gas auszusteigen. Außerdem fördert die ADB Großwasserkraft und Energie aus Müllverbrennung – das ist auch nicht toll. Nach der großen Ausstiegsverkündung ist Ernüchterung eingetreten. Im Rahmen der BRI finanziert die ADB beispielsweise Pipelines und große Wasserkraftwerke. Ein umstrittenes Projekt ist die TAPI-Pipeline von Turkmenistan über Afghanistan und Pakistan nach Indien. Sie soll auch China versorgen, indem von Pakistan aus eine Versorgungspipeline angedockt wird. Gegen diese riesige Gaspipeline gibt es viel zivilgesellschaftlichen Widerstand. Wir denken: Die Entwicklungsbanken sollten lieber Solarenergie fördern anstatt Gas zu pushen.
ne: Zumindest für die Kohlefinanzierung scheint die ADB ab sofort auszufallen. Die G7 haben ebenfalls beschlossen auszusteigen, und auch weltweit ist ein Anti-Kohle-Trend festzustellen, wie ja auch die Beispiele Pakistan und Bangladesch zeigen. Ist es da noch klug für China, an Kohle festzuhalten, wie Sie es beobachten?
Sausmikat: Da passieren in der Tat gerade erdbebenhafte Verschiebungen. Xis Ankündigung vor den Vereinten Nationen hat gezeigt, dass diese auch von China nicht ignoriert werden. Ob China nun komplett aus der gesamten Wertschöpfungskette der Kohleförderung entlang der BRI aussteigt, bleibt abzuwarten. Aber wie gesagt, man will die Kehrtwende erst einmal vor allem über technologische Lösungen schaffen, also beispielsweise CCS*. Pünktlich im Vorfeld zur Weltklimakonferenz COP 26 hat es China nun durch diese Ankündigung geschafft, dem erklärten Ziel, weltweit führend beim Klimaschutz zu werden, näherzukommen. Die Gefahr von Stranded Assets hat sicher auch dazu geführt, dass es nun einen Konflikt zwischen Staatsunternehmen und Banken gibt: Die größte Privatbank Chinas ist kürzlich aus zwei Kohleprojekten in Afrika ausgestiegen, in Simbabwe und Kenia. Das ist ein Novum.
* Kohlenstoffabscheidung und -speicherung
ne: Sie haben den Widerstand gegen die TAPI-Pipeline angesprochen. Wehrt sich die Bevölkerung auch in anderen Ländern gegen BRI-Projekte?
Sausmikat: Ja, durchaus. Ein weiteres Beispiel ist Kasachstan, das wegen seiner riesigen Öl- und Gasvorkommen eine zentrale Rolle in der BRI spielt. Nicht von ungefähr hat China den Start der Initiative 2013 in Kasachstan verkündet. Seitdem hat es dort massiv investiert und dominiert weite Teile der Wirtschaft und des Lebens. Die Regierung sieht das unkritisch, sie hält die BRI für ein Modernisierungsprogramm. Aber in der Gesellschaft hat sich eine große Gegnerschaft entwickelt. Die beiden großen Flüsse, von denen die Landwirtschaft in Kasachstan abhängt, wurden stark verschmutzt und das Wasser ist knapp geworden. Außerdem gefällt den Menschen in dem überwiegend muslimischen Land nicht, wie China die ebenfalls muslimischen Uiguren nebenan in Xinjiang behandelt. Das ist ein politisch heißes Thema.
ne: Apropos Politik: Sie hatten eingangs gesagt, dass China mit der BRI vor allem seine eigene Versorgung sicherstellen und Überkapazitäten abbauen will. Aber Peking verfolgt doch bestimmt auch eine politische Agenda?
Sausmikat: Auf jeden Fall. Es ist aber schwierig, darüber zu reden, denn einen offiziellen Plan gibt es natürlich nicht. „Politische Koordination“ heißt das Zauberwort im White Paper der BRI. Ganz deutlich ist Chinas Wunsch, maßgeblich an globalen Regulierungsinstrumenten mitzuarbeiten. Nachdem das in der Weltbank nicht funktioniert hat, hat China deshalb mit der AIIB eine neue, chinesisch geführte multinationale Entwicklungsbank gegründet. Peking verfolgt eine ganz andere Entwicklungspolitik als der Westen. Intransparent ist hingegen, wie China mit Hilfe der BRI seine Macht ausbaut. Man sieht, wie bestimmte Länder beispielsweise innerhalb der UN die chinesischen Positionen, chinesische Narrative unterstützen. Wie genau sie dazu gebracht werden, wissen wir nicht, denn die entsprechenden Vereinbarungen werden wir niemals zu Gesicht bekommen.