• Frühling 2012

Leang Kang schweigt nicht mehr

Sie ist eine von Tausenden, die von Pol Pots Roten Khmer gefoltert und vergewaltigt wurden. Dennoch werden die Täter wohl nie zur Rechenschaft gezogen werden.

Leang Kang beim Frauen-Hearing ©Foto: Bophana
Leang Kang beim Frauen-Hearing ©Foto: Bophana

Vergewaltigungen fanden unter den Roten Khmer nicht statt. So lautete 30 Jahre lang das Mantra. Sexuelle Gewalt galt, wie jeder außereheliche Kontakt, unter Pol Pots Terrorregime als moralisches Vergehen und wurde bestraft. Das war die gängige Meinung in Kambodscha. Aber Vergewaltigungen fanden doch statt - nicht nur als Einzeltaten, sondern hunderttausendfach, als Strategie im Bürgerkrieg. Und es gab schon immer Menschen, die davon wussten: Täter, Überlebende, Zeugen. Sie schwiegen aus Angst oder Scham; die Folgen waren Missachtung der Opfer und Straflosigkeit der Verantwortlichen.

Leang Kang ist mehrfach misshandelt und missbraucht worden. Sie erinnert sich an einen Abend im Jahr 1978, als Soldaten der Roten Khmer sie und andere Zwangsarbeiterinnen in einen Wald führten. „Sie zogen mich zwischen die Bäume“, berichtet die heute 59-Jährige. „Vier von ihnen traten auf meine Hände und hielten meine Beine fest, während der fünfte mich vergewaltigte. Dann war der nächste an der Reihe. Sie wechselten sich ab, bis ich das Bewusstsein verlor.“  

Die Roten Khmer, die von 1975 bis 1979 in Kambodscha herrschten, hatten lange viele Sympathisanten in der westlichen Linken, auch in Deutschland. Sie strebten eine kommunistische Agrargesellschaft an. Die Religion wurde verboten, das Geld abgeschafft, Schulen und Krankenhäuser geschlossen und beinahe die gesamte Bevölkerung zur Arbeit auf dem Land gezwungen. Rund jeder vierte Kambodschaner, insgesamt an die zwei Millionen Menschen, fielen der Schreckensherrschaft zum Opfer.

Um die traditionellen Familienstrukturen zu zerstören und möglichst viel Nachwuchs und Arbeitskraft für die neue Gesellschaft zu produzieren, verheiratete die Rote-Khmer-Führung im ganzen Land Frauen und Männer miteinander, gegen ihren Willen, darunter auch Minderjährige. Der „Vollzug der Ehe“ war für die einander meist vollkommen Fremden Pflicht. Wer sich weigerte, riskierte sein Leben.

Darüber hinaus verübten die Roten Khmer sexuelle Gewalt an Frauen, bevor sie sie auf den berüchtigten „Killing Fields“ oder an anderen Orten ermordeten. „Einmal zu Feindinnen erklärt, war alles erlaubt. Niemand wurde dafür bestraft“, weiß Silke Studzinsky. Das Vergewaltigen vor dem Töten – oft von mehreren Tätern und in äußerst brutaler Form – bezeichnet die Berlinerin,  die als internationale Rechtsanwältin für die Nebenklage Opfer der Roten Khmer vertritt, als klassisches Muster. „Ich habe Zeugenaussagen zusammengetragen: So genannte Feindinnen wurden nackt und mit Stöcken in der Vagina aufgefunden.“

Leang Kang, deren Ehemann von den Roten Khmer als angeblicher CIA-Spitzel ermordet worden war, überlebte vermutlich nur, weil eine alte Frau sie im Wald unter ihrer Schlafmatte versteckte, als die Soldaten am Morgen nach ihrer schrecklichen Tat nach ihr suchten. Von den brutalen Vergewaltigungen blieben ihr schwere Verletzungen. Und ein Kind, das wenige Tage nach der Geburt starb. Sowie ein Trauma, das sie bis heute nicht überwunden hat. „Ich habe dreimal versucht, mir das Leben zu nehmen“, sagt Leang Kang. Ihr seelischer Schmerz sei noch immer „unerträglich, unbeschreiblich“.

Silke Studzinsky hat dafür gesorgt, dass Tatbestände geschlechtsspezifischer Gewalt Teil der Anklage gegen die hochrangigsten noch lebenden Führer vor dem Rote-Khmer-Tribunal in Kambodscha wurden. Dort müssen sich seit einem halben Jahr Nuon Chea, der zweitwichtigste Mann nach Pol Pot, Ieng Sary, Außenminister sowie Stellvertreter und Schwager Pol Pots, und Khieu Samphan, Staatsoberhaupt des damaligen „Demokratischen Kampuchea“, vor einem mit kambodschanischen und internationalen Juristen besetzten Gericht verantworten.

Den Angeklagten, die einst als Studenten in Bangkok und Paris zu glühenden Kommunisten wurden, werden unter anderem Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt. Dass die Roten Khmer ihre Ideologie pervertieren und in ihrem Heimatland im Namen der Revolution Massenmorde begingen, wollte die westeuropäische und nordamerikanische Linke lange nicht wahrhaben. Viele grauenhafte Einzelheiten werden erst jetzt, im Zuge der Aufarbeitung durch das Tribunal, bekannt.

Als Silke Studzinsky ihre Arbeit in Kambodscha 2008 über eine Stelle der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) aufnahm, waren die Vorermittlungen im aktuellen Prozess bereits abgeschlossen. „Darin fand sich keinerlei Hinweis auf sexuelle Straftaten oder Zwangsehen“, berichtet die Anwältin, die auch in Deutschland Opfer sexueller Gewalt vertritt. Sie begann zu recherchieren, sammelte alles zusammen, was es zum Thema gab und befragte Zeitzeugen. Ihr Fazit: Zwangsehen und Vergewaltigungen waren in nahezu jeder Familie bekannt.

Im Oktober 2008 reichte die deutsche Anwältin einen Antrag auf Zulassung der Nebenklage für fünf Opfer sexueller Gewalt – vier Frauen und einen Mann - am Rote-Khmer-Tribunal ein. Das führte dazu, dass die Richter begannen, im ganzen Land wegen Zwangsehen zu ermitteln. „Es war ein großer Erfolg, dass dieses schwere Verbrechen in die Ermittlungen aufgenommen wurde“, sagt Silke Studzinsky.

Zwangsehen wurden in der Anklage zunächst als Vergewaltigung unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als „andere unmenschliche Akte“ aufgenommen. Auf Beschwerde der Verteidigung entschied die Vorverfahrenskammer jedoch, dass im Tatzeitraum der 1970er Jahre Vergewaltigung noch nicht als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ im Völkergewohnheitsrecht verankert gewesen sei. Allerdings wäre die Hauptverfahrenskammer nicht an diese rechtliche Wertung gebunden.

Sexuelle Gewalt außerhalb von Zwangsehen aber, wie Leang Kang sie erfahren hat, wird vom Gericht gar nicht berücksichtigt. Eine Verbindung zu den angeklagten Hauptverantwortlichen sei nicht beweisbar, so die Begründung. Opfervertreter und Frauenorganisationen beklagen das, Silke Studzinsky spricht von einem „Versagen des Gerichts“.

Um den Opfern trotzdem Gehör zu verschaffen und gegen die Straflosigkeit zu protestieren, hat die Nichtregierungsorganisation Cambodian Defenders Project im Dezember 2011 ein Frauen-Hearing veranstaltet. Betroffene wie Leang Kang, Zeugen und Fachleute berichteten während der zweitägigen Anhörung in Phnom Penh von ihren Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen der Roten Khmer.

Nach einer Auswertung des Hearings kam das mit nationalen und internationalen Expertinnen besetzte Fachgremium zu dem Schluss, die Führung des Regimes müsste für die weitverbreiteten Sexualverbrechen zur Verantwortung gezogen werden, da sie die Menschen nicht davor beschützt habe.

Doch um den Prozess zu vereinfachen und zu beschleunigen, hat das Rote-Khmer-Tribunal beschlossen, ihn zu teilen: Gegenstand des ersten, nun laufenden Verfahrens, sind lediglich die ersten beiden Zwangsumsiedlungen der Bevölkerung. Zwangsehen, aber auch alle anderen Anklagepunkte fallen damit heraus.

Viele Beobachter gehen davon aus, dass es danach keine weiteren Verfahren geben wird, nicht zuletzt aufgrund des fortgeschrittenen Alters und angegriffenen Gesundheitszustands der drei Angeklagten.

780 der 3.864 vom Gericht zugelassenen Nebenkläger und damit die zweitgrößte Gruppe sind Opfer von Zwangsehen, darunter mehr als 200 Mandanten von Silke Studzinsky. Auch für die Menschenrechtlerin selbst, die vier Jahre lang zusammen mit kambodschanischen Partnern für die Verfolgung von Sexualstraftaten unter den Roten Khmer gekämpft hat, wäre die Einstellung des Verfahrens eine bittere Niederlage: „Alle unsere Bemühungen um die gerichtliche Anerkennung der Opfer sexueller  Gewalt unter den Roten Khmer sind dann hinfällig.“