Einmal Ausstieg und zurück

Fünf Jahre nach Fukushima fährt Japan seine Reaktoren wieder hoch. Ohne Atomenergie glaubt die Regierung, ihre ohnehin niedrigen Klimaziele nicht zu schaffen – und plant für 2030 mit genauso viel Kernkraft wie Erneuerbaren.

Das Erdbeben in Japan und der anschließende Tsunami am 11. März 2011 kosteten nicht nur 16 000 Menschen das Leben, sie lösten auch die schwerste Atomkatastrophe seit Tschernobyl aus. Im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi der Firma Tokyo Electric Power (Tepco) kam es zu Kernschmelzen in drei Reaktorblöcken; große Mengen radioaktiven Materials wurden freigesetzt. Mit den Folgen des Supergaus kämpft das Land heute noch: Fische, Vögel und Schmetterlinge sind verstrahlt, ebenso Pflanzen und ihre Pollen. Heerscharen von Arbeitern tragen quadratkilometerweise kontaminierte Böden ab, verbrennen die Erde und verscharren die Asche. Der Rückbau des havarierten Kraftwerks wird noch Jahrzehnte dauern. Die Bergung der geschmolzenen Brennstäbe stellt eine ungelöste Herausforderung dar, und was langfristig mit dem verseuchten Wasser geschehen soll, mit dem sie noch immer gekühlt werden müssen, ist noch gar nicht geklärt. Jeden Tag kommen 400 Tonnen hinzu.

Bis zu 200 000 Menschen waren nach der Katastrophe aus der Gefahrenzone evakuiert worden, rund die Hälfte von ihnen lebt noch immer in Notunterkünften. Im Herbst vergangenen Jahres gab die Regierung mit Nahara die erste Stadt in der 20-Kilometer-Sperrzone wieder frei. Die meisten ehemaligen Bewohner zögern jedoch mit ihrer Rückkehr – zu groß ist die Angst, dass das Leben in der Stadt doch noch nicht sicher ist.

Der Reaktorunfall schürte weltweit die Zweifel an der Sicherheit der Kernkraft – unter anderem führte er zum erneuten deutschen Atomausstieg. In Japan selbst beschloss die Regierung, die rund 50 Atomreaktoren des Landes abzuschalten. Der letzte ging im Herbst 2013 vom Netz. Für die CO 2 -Bilanz war diese unvorbereitete Entscheidung ein herber Rückschlag: Japans Treibhausgasemissionen stiegen, anstatt – wie ursprünglich geplant – zu sinken. 2013 änderte die Regierung ihr Reduktionsziel offiziell: von 25 Prozent zwischen 1990 und 2020 auf 3,8 Prozent gegenüber dem Wert von 2005. Im Vergleich zu 1990 bedeutet das statt einer Reduktion ein Plus von drei Prozent. Die Atomkraft deckte vor Fukushima 30 Prozent des Gesamtenergiebedarfs Japans, ihr Wegfall wurde durch fossile Brennstoffe ausgeglichen. Alte Wärmekraftwerke – veritable CO 2 -Schleudern – nahmen den Betrieb wieder auf, die Öl- , Gas- und Kohleimporte stiegen dramatisch. Japan, das selbst kaum über fossile Rohstoffe verfügt, ist traditionell einer der größten Importeure fossiler Energieträger. Im Zeitraum eines Jahres von Januar 2011 bis 2012 stiegen die Einfuhren von Erdöl um 174 Prozent, Schweröl um 165, Gas 39 und Kohle zwölf Prozent.

Die Zweifel bleiben

Inzwischen sind zwei Atomreaktoren wieder in Betrieb. Der Energieversorger Kyu­ shu Electric Power fuhr die Meiler Sendai 1 und 2 in der Präfektur Kagoshima im Südwesten der Insel Kyushu im Herbst 2015 hoch. Im Januar beziehungsweise Februar dieses Jahres folgte Kansai Electric Power mit den Reaktoren Takahama 3 und 4 in der Präfektur Fukui auf der Hauptinsel Honshu. Sie mussten aber kurz darauf wieder abgeschaltet werden: Ein Gericht sah die Sicherheit nicht als gewährleistet an. Die Auflagen sind deutlich erhöht worden, um die Anlagen sicherer gegenüber Naturkatastrophen und anderen möglichen Schäden zu machen. Es bleiben jedoch Zweifel, ob ein wirksamer Schutz gegen Gefahren wie Erdbeben, Tsunamis oder auch Flugzeugabstürze überhaupt möglich ist. „Die Atomkraft ist nicht sicher“, sagte Naoto Kan, der japanische Regierungschef zum Zeitpunkt des Supergaus, der britischen Tageszeitung Guardian am fünften Jahrestag. Er sprach sich gegen den Neubau von Atomkraftwerken (AKW) irgendwo auf der Welt und gegen die Wiederinbetriebnahme japanischer Reaktoren aus und plädierte stattdessen für erneuerbare Energien. Die beiden wieder angefahrenen AKW liegen – wie das vom Tsunami getroffene Fukushima Daiichi – direkt am Meer, Sendai zudem im Gefahrenbereich eines Vulkans.

Den Ausstieg vom Atomausstieg hatte die aktuelle Regierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Shinzo Abe, einem ausgesprochenen Atomkraftbefürworter, unmittelbar nach ihrem Wahlsieg im Dezember 2012 verkündet. Laut einer aktuellen Umfrage ist die Mehrheit der Japaner zwar dagegen. Doch der Bevölkerungswille, der sich auch in massiven Protesten äußerte, konnte das Kernkraft-Revival lediglich verzögern. Die Wiederinbetriebnahme der meisten AKW ist geplant, ein zusätzliches Kraftwerk mit zwei Reaktoren ist im Bau. Die Stromkonzerne würden auf große Atom- und Kohlekraftwerke setzen, sagt ein Vorstandsmitglied des japanischen Windenergieverbands, das nicht namentlich genannt werden möchte. Es möge für Deutsche lächerlich erscheinen, „aber sie halten Atomenergie und Kohleimporte aus Australien für hilfreich, um die Energiesicherheit in Japan zu verbessern“.

Für 2030 strebt Japan einen Atomstromanteil im nationalen Energiemix von 20 bis 22 Prozent an. So steht es in den freiwilligen Zielen (Intended National Determined Contributions – INDC), die Tokio im Vorfeld der Weltklimakonferenz in Paris bei der UN-Klimarahmenkonvention eingereicht hat. Das entspricht ungefähr dem Anteil, der für erneuerbare Energien vorgesehen ist: Dort sind es 22 bis 24 Prozent. Flüssigerdgas steht in Japans 2030-Szenario mit 27 Prozent an der Spitze der Energieträger, dicht gefolgt von Kohle mit 26 Prozent. Das Ziel für Öl liegt bei drei Prozent.

Die Regierung hält den anvisierten Atomstromanteil für unverzichtbar, um ihre Klimaziele zu erreichen. Laut INDC will Tokio bis 2030 seine CO 2 -Emissionen gegenüber 2013 um 26 Prozent reduzieren. Nach Berechnungen des von mehreren Klimainstituten erstellten Climate Action Trackers (CAT) entspricht das einer Verringerung von 18 Prozent im Vergleich zu 1990. Beim CAT landet Japan damit in der schlechtesten Kategorie, „unzureichend“. Zum Vergleich: Die Europäische Union strebt im gleichen Zeitraum eine Reduzierung um mindestens 40 Prozent an.

Niedrige Klima-Ambitionen

Nach dem Vertragsabschluss von Paris erklärte Abe, Japan werde für die Klimaziele „nicht das Wirtschaftswachstum opfern“. Im INDC-Text heißt es, mit seinen Emissionszielen trage Japan zu den in Paris vereinbarten langfristigen Zielen bei. Dazu gehören die Reduzierung der Emissionen aller Industrieländer zusammen um mindestens 80 Prozent bis 2050 und die vollständige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft im Laufe dieses Jahrhunderts, um die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen.

CAT hält es jedoch für unmöglich, diese Ziele mit der im japanischen INDC formulierten Selbstverpflichtung zu erreichen. „Wenn alle Länder so unambitioniert wie Japan wären, würde die Erderwärmung vor aussichtlich im 21. Jahrhundert drei bis vier Grad übersteigen“, heißt es dort. Mit dem im April 2014 veröffentlichten Energiestrategieplan, den Tokio zugleich verfolgt, sei die Wende hin zu einer CO 2 -armen Wirtschaft nicht zu schaffen. Stattdessen nehme die Bedeutung von Kohlekraftwerken sogar noch zu.

Dabei könnte Japan mit dem entspre chenden politischen Willen zum Ener giewende-Vorreiterland werden. Die geologischen, topografischen und technologischen Voraussetzungen dafür sind ideal, darüber sind sich Experten einig. Laut einer 2015 veröffentlichten Studie im Auftrag des japanischen Umweltministeriums könnte die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien bis 2030 verdreifacht werden. Bis zu 356,6 Terrawattstunden (TWh) pro Jahr wären demnach möglich. Andere Berechnungen gehen noch weiter: Das Global Energy Network Institute (Geni) stellte 2012 in einem Bericht dar, wie Japan bis 2020 unabhängig von fossilen Energieträgern werden könnte, und die Japan Renewable Energy Policy Platform legte eine Studie vor, die das gleiche Ziel für 2050 anvisiert. Geni hebt unter anderem die „große öffentliche Unterstützungfür saubere, erneuerbare Energien wie Solar- und Windkraft“ hervor.

Allerdings müssen Stromleitungen ausgebaut und Angebot und Nachfrage besser zusammengebracht werden. Japan hat viele Einzelnetze, aber wenig Übertragungsmöglichkeiten von Insel zu Insel, etwa von den Gegenden mit dem besten Potenzial für Windkraft vor der nördlichen Insel Hokkaido und vor Kyushu im Süden in die Hauptabnehmerregion um Tokio auf der zentral gelegenen Insel Honshu.

Der Strommarkt durchläuft derzeit einen Liberalisierungsprozess. Die Bereiche Produktion, Lieferung und Netze, die bisher in der Hand von zehn großen Firmen waren, sollen getrennt werden. Seit April können Stromkunden ihren Anbieter erstmals frei wählen, rund 200 neue Energieversorger sind zugelassen. In Zukunft sollen Stromlieferanten auch direkt an Endverbraucher verkaufen können, statt an die Netzbetreiber gebunden zu sein.

Photovoltaik boomt

Der ostasiatische Inselstaat verfügt zwar über tausende Kilometer Küste mit hohen Windgeschwindigkeiten, über eine sehr gute Sonneneinstrahlung sowie – durch die Lage am Pazifischen Feuerring – ein enormes geothermisches Potenzial. In großem Stil wird bislang aber in erster Linie die Wasserkraft genutzt. Laut der Internationalen Organisation für Erneuerbare Energien (Irena) betrug die installierte Kapazität hier 2014 knapp 49 Gigawatt (GW). Jenseits der Großwasserkraft verfügte Japan nach Angaben des Erneuerbaren-Netzwerks REN21 im selben Jahr über eine Gesamtkapazität von 31 GW. Damit lag das Land weltweit zusammen mit Indien auf Platz sechs. Der Anteil erneuerbarer Energien am Strommix betrug 2014 nach Angaben der Japanischen Erneuerbare-Energien-Stiftung 12,2 Prozent inklusive Wasserkraftwerken unter 30 MW Leistung. 218 000 Menschen waren 2014 Irena zufolge in der Branche beschäftigt.

Auch wenn Japan weit unter seinen Möglichkeiten bleibt – Förderung und Ausbau erneuerbarer Energien finden durchaus statt. Seit 2012 gibt es Einspeisetarife für alle relevanten regenerativen Energie-quellen. Sie werden jährlich angepasst und durch eine Umlage auf die Strompreise finanziert. Zudem gibt es Förderprogramme und Subventionen auf kommunaler Basis. Die Investitionen in Erneuerbare waren 2014 nur in zwei Ländern höher: China investierte mit 83,3 Milliarden Dollar inklusive Forschung und Entwicklung fast ein Drittel der weltweiten Gesamtsumme. Die USA kamen mit 38,3 Milliarden Dollar auf weniger als die Hälfte davon, dicht gefolgt von Japan mit 34,3 Milliarden Dollar, wobei Forschung und Entwicklung nicht mitgerechnet sind.

Lässt man die Großwasserkraft außen vor, spielt in Japan die Solarenergie dabei die mit Abstand größte Rolle. Laut REN21 landete das Land 2014 mit Solarneuinstallationen von 9,7 GW weltweit auf dem zweiten Platz hinter China. Mit 23 GW verfügte es über die drittgrößte installierte Kapazität nach Deutschland und den USA. Der Solar-Anteil am Strommix beträgt je-

doch nur rund zwei Prozent. Bis 2030 sollen es sieben werden. Derzeit scheint Japan auf einem guten Weg: Für 2015 geht der Finanzanalyst Bloomberg New Energy Finance von 12,3 GW Zubau aus – und prognostiziert weitere 14,3 GW in diesem Jahr. Danach soll der Wert allerdings wieder sinken.

Windkraft vernachlässigt

Im Vergleich zur Photovoltaik fristet die Windkraft ein Schattendasein. Ende 2015 waren nach Angaben des japanischen Windkraftverbands JWPA lediglich drei GW installiert, der Zubau lag bei 244 MW. Im Energiemix betrug der Anteil ein halbes Prozent. An Land sind die Möglichkeiten beschränkt, aber offshore steht Japan theoretisch ausgesprochen gut da. Die oben zitierte Studie im Auftrag des japanischen Umweltministeriums kam zu dem Ergebnis, dass bei konsequentem Ausbau bis zum Jahr 2030 zwischen 41 und 64,6 TWh aus Windkraft erzeugt werden könnten. Das ist acht- bis zwölfmal so viel wie heute. Der JWPA will bis dahin 36,2 GW installiert sehen, die Regierung gibt hingegen nur zehn GW als Ziel an. Der Windkraftanteil soll dann laut INDC 1,7 Prozent betragen – weniger als bei Wasserkraft, Solar- und Bioenergie. Tatsächlich kommt der Ausbau nur langsam voran. Erst 2014 führte die Regierung einen speziellen, deutlich höheren Einspeisetarif für den teureren Offshore-Strom ein, um dessen Wirtschaftlichkeit zu erhöhen.

„Die Netze sind ein zentraler Punkt“, sagt das Vorstandsmitglied des Windverbands zum langsamen Ausbau. „Die Energieversorger übertragen Strom nicht zwischen den Regionen, weil das nicht ihrem Geschäftsmodell entspricht.“ Es sei daher schwierig, fluktuierenden Windstrom im Netz auszugleichen. In einzelnen Regionen müssten Anlagenbetreiber zudem unbefristet und ohne Entschädigung auf Netzanschlüsse warten. Es sei auch bislang nicht geklärt, wer die Kosten des Netzausbaus trägt: die Stromkunden oder die Windkraftentwickler. Hinzu kämen ungeklärte Zuständigkeiten für Genehmigungen auf See, die hier die Projektentwicklung äußerst riskant machten.

Eine noch kleinere Rolle als die Windkraft spielt in den Regierungsplänen nur die Geothermie. Ihr Anteil betrug 2014 ein halbes Prozent, das Szenario für 2030 sieht sie bei rund einem. Und das, obwohl das Erdwärmepotenzial Japans aufgrund zahlreicher aktiver Vulkane hoch ist: Besser ist es laut REN21 nur in den USA und Indonesien. Zudem ist die Geothermie die preisgünstigste erneuerbare Quelle zur Stromerzeugung in Japan. Ihre Gewinnung war lange problematisch, weil die meisten Vulkane in Nationalparks liegen. 2012 lockerte Tokio aber die Vorschriften. Bei der Wärmegewinnung aus Geothermie lag Japan 2014 bereits auf Platz drei hinter China und der Türkei, bei der Stromerzeugung auf Platz neun. Zahlreiche Geothermiekraftwerke sind in Planung, beziehungsweise im Bau.

Stark bei Innovationen

Nach der Nuklearkatastrophe machte die Regierung Fukushima zum Zentrum für erneuerbare Energien – als Symbol für den Wiederaufbau und um Arbeitsplät ze zu schaffen. Beispielsweise startete sie ein Demonstrationsprojekt mit schwimmenden Windkraftanlagen vor der dortigen Küste und siedelte eine Messe für erneuerbare Energien in der Präfektur an. 2014 öffnete das Fukushima Renewable Energy Institute, um Forschung und Entwicklung voranzutreiben. Nahe dem havarierten Kraftwerk stehen inzwischen Freiflächen-Solaranlagen. Auch das größte Geothermiekraftwerk des Landes mit einer Kapazität von 270 MW soll in Fukushima gebaut werden.

Eine führende Rolle nimmt Japan traditionell bei der Technologieentwicklung ein. Stark ist das Land unter anderem bei Speichertechnologien, der Wasserstoffwirtschaft und der Effi zienz von Stromsystemen. So ist es auch Pionier im Bereich Elektromobilität, vor allem was die Entwicklung von Batterien und Brennstoffzellen betrifft. Auf Japans Straßen fahren die meisten Elektro- und Hybridautos nach den USA und China.

Die Regierung treibt darüber hinaus Innovationen in anderen klimarelevanten Sektoren wie Land- und Forstwirtschaft, Industrie, Abfallwirtschaft und Gebäuden voran. Rund 90 Prozent der Treibhausgasemissionen Japans stammen jedoch aus dem Energiebereich. Wenn hier nicht mehr geschieht, wird das Land das Prädikat „ungenügend“ wohl so schnell nicht los – Atomkraftwerke hin oder her.